AYKA. Ab 18. April 2019 im Kino - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 10.04.2019


AYKA. Ab 18. April 2019 im Kino
Anita Oberlin

Die für ihre Rolle dreifach ausgezeichnete Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova spielt unter der Kameraführung von Jolanta Dylewska ("Die Spur") in einem tief bewegenden Film von Sergey Dvortsevoy ("Tulpan") eine junge Frau, die durch extreme Umstände dazu gebracht wird, eine drastische Entscheidung zu treffen. Unbedingt sehenswert!




"Im Jahr 2010 wurden in Moskauer Geburtskliniken 248 neugeborene Babys von Müttern aus Kirgisistan aufgegeben." Von dieser verstörenden Zeitungsmeldung bewegt, begann sich der russische Regisseur Sergej Dvortsevoy, 1962 in Kasachstan geboren, zu fragen: Unter welchen Umständen kann es dazu kommen?

Entstanden ist ein ergreifender Spielfilm, der beinahe sprachlos, vor allem aber betroffen macht. Die Zuschauerin wird Zeugin des Ãœberlebenskampfes von Ayka, einer jungen Kirgisin. Wie viele andere junge Menschen kam sie in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft aus ihrem Heimatland in die russische Metropole Moskau. Der Versuch, sich eine Existenz aufzubauen, bringt sie an die Grenzen dessen, was ein Mensch aushalten kann.

Ein Wettlauf gegen die Zeit, ein Kampf gegen ihren Körper

Ayka hat gerade ihr Kind zur Welt gebracht. Noch geschwächt von der Geburt flüchtet sie aus dem Krankenhaus, nur mit einer Plastiktüte und ohne ihr Baby. Hinaus ins erbarmungslose Moskau: Schnee, Matsch, frierende, hastende Menschen. Anhaltendes Getöse der breiten, viel befahrenen Straßen und immer wieder Aykas penetranter Handyklingelton: Sie muss Geld auftreiben, um ihre Schulden zu begleichen, unbedingt.

Ayka kämpft sich durch die Stadt, um in einer verwahrlosten Geflügelproduktion zu schuften: heiße Wasserkessel, gerupfte Hühner, blutende Gedärme. Ayka sieht krank aus. Sie hat anhaltende Blutungen, doch sie arbeitet weiter, nimmt hastig Schmerztabletten. Die Männer, für die Ayka den ganzen Tag gearbeitet hat, verschwinden, ohne sie zu bezahlen. Ayka muss weiter. Unterwegs sammelt sie Eiszapfen von den verschneiten Dächern, mit denen sie nachts in ihrer verwahrlosten Unterkunft, die sie mit anderen zum größten Teil illegal in Russland nach Arbeit suchenden Frauen und Männern teilt, ihren Unterleib zu betäuben versucht.

Verloren in einer fremden Stadt

Die schauspielerische Leistung der aus der nordkasachischen Stadt Petropawl stammenden Hauptdarstellerin Samal Yeslyamova ist überwältigend. Für ihre Rolle der Ayka wurde sie 2018 auf den Internationalen Filmfestspielen in Cannes, beim International Antalya Film Festival und mit dem Asian Film Award sehr verdient ausgezeichnet.
Kamerafrau Jolanta Dylewska, die auch in Agnieszka Hollands "Die Spur ("Pokot") für die Kamera verantwortlich war und neben zahlreichen anderen Preisen auf dem polnischen Filmfestival Camerimage und mit dem Asian Film Award 2009 für die Beste Kamera in "Tulpan" geehrt wurde, lässt mit einer dokumentarisch anmutenden Kameraführung die Zuschauerin das grau verhangene Moskau durch Aykas Augen erleben. Die Kamera stolpert mit der Getriebenen über die schmutzigen Straßen durch die Schneemassen, vorbei am immerzu tosenden Verkehr.

Ayka hatte Träume, jetzt kämpft sie ums Überleben

Die Zuschauerin erfährt: Ayka kam nach Moskau mit einem Traum und mit Hoffnung. Sie wollte einen Nähsalon gründen, lieh sich dafür das Geld - wie sich herausstellt bei skrupellosen Gangstern. Die Kreditgeber sind der mittellosen Ayka auf den Fersen, immer wieder erinnert sie das unerbittliche Klingeln ihres Telefons. Die Verfolger bedrängen ihre Schwester: "Sag ihnen, du weißt nicht wo ich bin. Das ist mein Leben, nicht deins."

Das Selbstbewusstsein der jungen Frau, das in solchen Momenten erkennbar wird, steht im Gegensatz zu ihrem sich stetig verschlechternden körperlichen Zustand, den sie immer weniger ignorieren kann. Mit starken Blutungen rennt sie auf die Toilette einer Tierarztpraxis. Chinara, die dort putzt, schenkt Ayka einen ersten Moment menschlicher Wärme. Sie kocht der völlig erschöpften Ayka Tee und mahnt sie, sich ärztlich behandeln zu lassen.

Das scheint längst überfällig. Ayka geht zu einer Ärztin, die auch illegale Abtreibungen vornimmt. Ayka scheint kein Einzelfall zu sein. Die Ärztin kenne Frauen wie Ayka, die angeben, eine Fehlgeburt gehabt zu haben, um nicht die Wahrheit sagen zu müssen. Nach der Behandlung wird Ayka verordnet, die Muttermilch abzupumpen und sich auszuruhen.

Stattdessen: Weiße Milch rinnt in den Abguss des schmutzigen Waschbeckens und Ayka schrubbt den Fußboden der Tierarztpraxis, sie hat für ein paar Tage Arbeit als Chinaras Vertretung gefunden. Ayka hat Schmerzen, bindet sich die Brust ab.
Ohne viele Worte vermittelt der Film das Missverhältnis der Situation, in der sich seine Protagonistin befindet: Vier Menschen kümmern sich um einen kränklichen Leguan, der Tierarzt höchstpersönlich erklärt einer Dackelhalterin, wie wichtig es ist, dass das Dackelweibchen ihre Welpen säugt, da sich sonst die Milch staut. Solche Szenen tun der Zuschauerin beinahe selbst weh.

Illegalität und Verbrechen – Aykas Schicksal liegt nicht in ihrer Hand

Sergey Dvortsevoy, der bisher hauptsächlich dokumentarische Filme drehte, ist es auf beeindruckende Weise gelungen, die Figur Ayka und ihr Handeln so eindrücklich zu zeichnen, dass die Zuschauerin während des Films die unter normalen Umständen unverständliche Entscheidung der jungen Mutter nicht verurteilt. Schon bevor die Kriminellen, denen Ayka Geld schuldet, sie finden und mit einem Messer bedrohen, ist sich die Zuschauerin sicher: Sie hat keine Wahl.

Die Umstände, die Ayka dazu gebracht haben, ihr Kind zurückzulassen sind geprägt von Armut, Migration, Kriminalität und einer mehr als prekären Lebenssituation. Nicht zuletzt ihr abgelaufenes Arbeitsvisum macht ihr verzweifeltes Bemühen, ihre Schulden zu begleichen, fast aussichtslos.

Schneematsch, Putzwasser, Blut und Schweiß

Bis fast zum Ende gibt es jedoch keine einzige Träne. Sergey Dvortsevoy lässt den Erzählbogen bis zum Ende ansteigen, um mit einer noch viel tiefergreifenden Wendung die Zuschauerin doch noch im Ungewissen zu lassen. Die Situation, in der Ayka sich befindet, ist noch viel grausamer als die Zuschauerin anfangs vermutet. So zeigt "Ayka", zu welchen unmenschlichen Entscheidungen ein Mensch getrieben werden kann, wenn die Welt um ihn herum kein Erbarmen kennt.

AVIVA-Tipp: Der bewegende Film macht deutlich, dass ein moralisches Urteil über einen Menschen, der sich in einer ausweglosen Situation befindet, nicht möglich ist. Aykas Geschichte ist zwar fiktiv, doch beruht sie auf einer Tatsache und hat eine gesellschaftliche Brisanz. Sergej Dvortsevoys stellt mit "Ayka" den Abgrund dar, in den Menschen gedrängt werden, die von der Gesellschaft ausgestoßen werden.

Zur Hauptdarstellerin: Samal Yeslyamova gab ihr Leinwanddebüt in "Tulpan", dem mehrfach preisgekrönten Film von Sergey Dvortsevoy, der bei den Filmfestspielen von Cannes 2008 Premiere feierte. Samal Yeslyamova wurde 1984 in Petropawl in Kasachstan geboren und studierte von 2007 bis 2011 am Russischen Institut für Theaterkunst. Sie lebt derzeit in Moskau. Für ihre Rolle in "Ayka" wurde sie 2018 in Cannes als Beste Schauspielerin, mit dem Asian Film Award und dem Golden Orange Award des Antalya Film Festivals ausgezeichnet.

AYKA
Regie: Sergey Dvortsevoy
Drehbuch: Sergey Dvortsevoy, Gennady Ostrovsky
Russland/Deutschland/Polen/Kasachstan/China 2018, 110 Minuten
Besetzung:
Ayka - Samal Yeslyamova
Chinara - Zhipargul Abdilaeva
Vermieter - David Alaverdyan
Tierarzt - Sergey Mazur
Besitzer Autowaschanlage - Slava Agashkin
Vorarbeiter Geflügelproduktion - Ashkat Kuchinchirekov
Stab:
Kamera: Jolanta Dylewska
Schnitt: Sergey Dvortsevoy, Petar Markovic
Szenenbild: Olga Jurasova
Ton: Maksim Belovolov, Martin Frühmorgen, Joanna Napieralska, Holger Lehmann
Kostüm: Aleksandra Demidova
Produktion: Sergey Dvortsevoy (Kinodvor, Russland), Thanassis Karathanos, Martin Hampel (Pallas Film, Deutschland), Anna Wydra (Otter Films, Polen)
Koproduktion: Gulnara Sarsenova (Eurasia, Kasachstan), Li Zhu, Luna Wang (Juben Pictures, China), Michel Merkt (KNM, Monako), ZDF/ARTE
Mit Unterstützung von: Russisches Kulturministerium, Eurimages, Polish Film Institute, Mitteldeutsche Medienförderung
Kinostart: 18. April 2019
Mehr Infos zum Film unter: www.mm-filmpresse.de


Mehr zum Thema:

"Ayka" – die Geschichte einer Mutter, die ihr neugeborenes Kind im Krankenhaus zurücklässt. Zu den Gründen kann auch eine psychische Krise gehören. Die Deutsche Depressionshilfe gibt an, dass in Deutschland 15% der Frauen von einer postpartalen Depression nach der Schwangerschaft betroffen sind, infolge derer fehlende Gefühle für das Kind auftreten können. Dabei gehört auch mangelnde Unterstützung zu den Faktoren, weshalb die Erkrankung besonders in sozial benachteiligten Gesellschaftsschichten eine ernstzunehmende Rolle spielt.
Weitere Informationen gibt es beim Verein Schatten & Licht e.V.: www.schatten-und-licht.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Der Film "Das Fremde in mir" der Berliner Regisseurin Emily Atef zeigt den freien Fall einer Frau, die nach der Geburt ihres Kindes nichts empfindet und in eine tiefe Krise gerät. (2008)

Die Regisseurin Rémi Bezancon zeigt in ihrem Film "Ein freudiges Ereignis", wie viele Momente des Glücks die Elternschaft mit sich bringen kann - jedoch auch, wie stark sie die eigenen Pläne, Projekte und das Selbstbild beeinflusst. (2013)

Eine Femmage an Astrid Ericsson (später Lindgren) zeigt die skandinavische Regisseurin Pernille Fischer Christensen mit "Astrid" und erzählt auch davon, dass die Schwedin ihren Sohn nur wenige Tage nach der Geburt in Dänemark zurücklassen musste. (2018)

Die US-amerikanische Wissenschaftsjournalistin Mara Hvistendahl malt in ihrem Buch "Das Verschwinden der Frauen. Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen" ein furchterregendes Zukunftsszenario und verweist auch auf machtpolitische Interessen westlicher Industriestaaten. (2013)

Die Langzeitdokumentation "Achtzehn - Wagnis Leben" der Berliner Regisseurin Cornelia Grünberg begleitet vier Mädchen, die mit vierzehn Jahren ungewollt schwanger wurden und sich kurz vor ihrer Volljährigkeit der Frage stellen müssen, ob sie die volle Verantwortung für ihre Kinder übernehmen können. (2014)


Kunst + Kultur

Beitrag vom 10.04.2019

AVIVA-Redaktion